Am Wochenende ist die ungarische Philosophin und Holocaustüberlebende Agnes Heller mit 90 Jahren gestorben. Sie betrieb eine politische Philosophie, in der die Theologie ein Heimatrecht besaß - Ein Nachruf von Henning Klingen
Budapest-Wien, 22.07.2019 (KAP) Politische Philosophie - das klingt nach hartem akademischem Brot, nach trockener Exegese und ein wenig hilfloser, weil vom Politbetrieb längst überholter Diskursversuche über das, was Politik eigentlich will oder wollen sollte. Noch zäher wird die Geschichte, wenn sich Theologen einschalten und der Politik mit Gott, Kirche oder gar dem Messias kommen. Da winken selbst geneigte Philosophen ab. An Theologie oder Religion wollen sie sich nicht die Finger verbrennen. Kurz: Eine akademisch belastbare Brücke von Religion und Theologie hinüber zur Politischen Philosophie sucht man aktuell vergeblich.
Doch dann liest man einen Satz wie jenen: "Politik ohne Metaphysik ist stumm" - und stutzt. Geschrieben nicht etwa von apologetisch aufgepeitschten Theologen, sondern von der Grand Dame der (politischen) Philosophie und Holocaustüberlebenden Agnes Heller. Am vergangenen Wochenende ist sie mit 90 Jahren bei einem Badeausflug im ungarischen Balatonalmadi am Plattensee verstorben.
Heller war eine Schülerin des ungarischen marxistischen Philosophen Georg Lukacs (1885-1971). Nach dem ungarischen Volksaufstand von 1956 stellte sie den sogenannten real existierenden Sozialismus - der die sowjetische Herrschaft über Osteuropa und damit ihre Heimat Ungarn einschloss - in Frage und wurde zur Dissidentin. 1977 emigrierte sie nach Repressionen des damaligen kommunistischen Regimes nach Australien. 1986 wurde sie Nachfolgerin von Hannah Arendt auf deren Lehrstuhl für Philosophie an der New School for Social Research in New York. Nach der demokratischen Wende 1989 kehrte sie nach Ungarn zurück, wo sie zu einer der streitbarsten Stimmen eines modernen Liberalismus wurde.
Den Lebensdaten ließen sich zahlreiche weitere Stationen und auch publizistische Höhepunkte sowie ihre anhaltend kritische Haltung zur Regierung Orban hinzufügen - allein, hier interessiert der erfrischend unorthodoxe Blick, den Heller als Philosophin auf Religion und Theologie geworfen hat. So machte sie nie einen Hehl daraus, dass sie jede Form eines antireligiös gestimmten Philosophie-Dünkels kritisch gegenüber stand. Das zeigt das obige Zitat ("Politik ohne Metaphysik ist stumm") ebenso wie eine Passage aus dem gleichen, erstmals 1995 auf Deutsch erschienenen, viel beachteten Aufsatz "Politik nach dem Tod Gottes", in dem sie gar dem Messias-Gedanken neu zu polit-philosophischen Ehren verhilft.
Notwenig "leerer Stuhl"
So heißt es in dem u.a. im "Jahrbuch Politische Theologie" (Bd. 2: Bilderverbot) 1997 erneut veröffentlichten Text von Heller wörtlich: "Der leere Stuhl wartet auf den Messias. Wenn jemand diesen Stuhl besetzt, kann man sicher sein: es handelt sich dabei um den pervertierten oder verlogenen Messiah. Wenn jemand den Stuhl wegnimmt, dann ist die Vorführung zu Ende und der Geist wird die Gemeinde verlassen. Die Politik kann diesen unbesetzten Stuhl nicht gebrauchen, aber solange man den Stuhl belässt, wo er ist, genau dort im Zentrum des Raumes, wo er in seiner warnenden, vielleicht sogar pathetischen Leere fixiert bleibt, müssen die politischen Handlungsträger sein Dasein immer noch in Rechnung stellen. Zumindest steht es ihnen frei, sein Dasein in Rechnung zu stellen. Alles übrige ist Pragmatismus."
Gewiss, es bleibt politische Philosophie, also das Nachdenken über die Quellen des Politischen, welches sich nicht in der Kunst des Möglichen erschöpfen sollte, sondern stets ein höheres Gut als Maßstab des Politpragmatismus anzielen möge. Der Messias-Gedanke taugt daher an dieser Stelle auch nicht dazu, der Theologie ein unbedingtes Wohnrecht in den Diskursläufen zeitgenössischer Philosophie zu sichern - aber es zeigt doch die erfrischend unkonventionelle Aneignung durch Heller, was Theologinnen und Theologen allzu oft verabsäumen (oder worin sie schlicht in den ihren eigenen Bereich überschreitenden Diskursarenen kein Gehör finden): Dass theologische Paradigmen durchaus produktives säkulares Potenzial entfalten können, wenn sie nur mutig übersetzt werden. Darin, so ließe sich eine Brücke zu einem gleichaltrigen, gleichwohl noch lebenden deutschen Polit-Philosophen schlagen, ist sie auf einer Wellenlänge mit Jürgen Habermas, der sich immer wieder für eine Übersetzung religiöser Gehalte in säkulare Öffentlichkeiten stark gemacht hat.
Mit Habermas teilt Heller darüber hinaus ihre philosophische Sozialisierung, die eine Sozialisierung "nach Auschwitz" war: Auch wenn sie - 1929 in Budapest geboren - mit ihrer Mutter während des Dritten Reiches einer Deportation in ein Vernichtungslager immer wieder entgehen konnte, so war es doch der Holocaust, der die verborgene Triebkraft hinter ihrer politischen Philosophie bildete. Und auch hier - wie sie 2010 in einem Interview mit dem "Kölner Stadtanzeiger" einräumte - spielt Religion mit hinein: "Wenn man in der Hölle lebt, muss man an die Erlösung glauben - sonst kann man nicht überleben. Nach meiner Befreiung aus dem Holocaust musste ich daher an etwas absolut Gutes glauben können. Und das habe ich getan."
Gewiss, dieses "Gute" war zunächst der Sozialismus - ein geschichtlicher Irrweg, von dem sie sich früh abwendete. Als eine Art negativer Bürgschaft machte sie sich dann immer wieder Momente theologischen Erlösungsdenkens zu eigen: Nicht, um mit missionarischem Eifer für die Sache Gottes zu kämpfen, sondern für die Sache des Menschen, für dessen Freiheit der Gottesgedanke ein Türöffner sein kann.