Der Sozialphilosoph Jürgen Habermas hat ein neues Großwerk über den Diskurs von Glauben und Wissen vorgelegt. Bei einem Kathpress-Exklusiv-Termin berichtet er über Beweggründe und Aha-Erlebnisse bei seinem Parforce-Ritt durch die Philosophiegeschichte - Von Henning Klingen
München-Wien, 11.11.2019 (KAP) Große Fensterfronten, klare Formen, moderne Kunst: Hier ist Platz für hellsichtiges, großes Denken, für kritische Einsprüche und mutige Entwürfe. Seit 40 Jahren lebt und arbeitet Jürgen Habermas in Starnberg in Oberbayern. Schnörkellose architektonische Moderne in zweifellos bester Wohnlage, die sich auch in der Klarheit der Gedankenwelt des inzwischen 90-jährigen Philosophen widerspiegelt. Aktuellster Erweis dessen ist sein neuestes "Opus magnum", das am Montag erschienen ist: Das zweibändige Werk "Auch eine Geschichte der Philosophie". Ein Parforce-Ritt durch die Philosophiegeschichte unter den Vorzeichen des Diskurses von Glauben und Wissen.
Wir, das heißt der Salzburger Theologe Prof. Martin Dürnberger und ich, sind verabredet zu einem seltenen Gesprächstermin - mit Jürgen Habermas über sein neues Buch. Ein dreistündiger Philosophie-Crashkurs bei Kaffee und Kuchen; bei "leichtem Gebäck", wie er vorher schreibt. Doch was Habermas da entfaltet - im Gespräch wie auch im neuen, fast 1.800 Seiten starken Buch - ist alles andere als leichtes Gebäck; es ist Schwarzbrot fürs Hirn. Denn es geht um Alles, was der Fall ist - und um ein Quäntchen mehr: Es geht ihm darum, den dunklen Wurzelgrund der abendländischen Philosophie auszuleuchten, also jene Diskurskonstellationen zu rekonstruieren, durch die hindurch sich das säkulare Denken aus dem Klammergriff der Religion und der Theologie befreite und zur Ausbildung der modernen libertären und säkularen Philosophie beigetragen hat.
Maulwurf der Vernunft bei der Arbeit
Um das aufzuzeigen, arbeitet sich Habermas - einem Maulwurf der Vernunft nicht unähnlich - durch Epochen und Zeitalter, durch historische Quellen und längst verflossene Diskussionen. Von der sogenannten "Achsenzeit" über Thomas von Aquin, Martin Luther bis zu Kant, Hegel, Marx und Kierkegaard: Die Genealogie nachmetaphysischen Denkens als philosophische Emanzipationsgeschichte bis hin zur nicht neuen, gleichwohl neu gewandeten und deutlich angereicherten These von den noch nicht vollständig ausgeschöpften "semantischen Potenzialen" der Religion, die - mit seinem Lehrer Adorno gesprochen - der Übersetzung und Einwanderung "ins Profane" harren.
Das liest sich - bei allen Mühen, die 1.750 Seiten selbst einem geneigten Leser abverlangen - schillernd und stringent, als würde diese Version einer Geschichte der Philosophie keinen Widerspruch dulden. Im Gespräch allerdings klingt das schon deutlich zaghafter, ja, vorsichtiger: Habermas berichtet von beglückender Quellenlektüre, von Klassikern der Philosophie- und Religionsgeschichte, die er teils überhaupt zum ersten Mal, teils erstmals seit Studientagen wieder gelesen hat. Zugleich wisse er um die große Schwäche des Entwurfs, nämlich den eklatanten Mangel an Sekundärliteratur. Ihm habe schlichtweg die Kraft gefehlt, auch dies noch einzuarbeiten.
Tief sinkt der Denker ins Sofa, hinter ihm wandfüllende moderne Malerei. Kurzes Verschnaufen bei einem Schluck Kaffee. Der Blick wandert entlang wohlgeordneter Bücherwände. Nur einzelne ins Auge stechende Publikationen wie ein abgegriffener Band "Protest!" oder ein Stapel "Frankfurter Hefte" auf dem Couchtisch erinnern daran, dass die augenscheinliche Bürgerlichkeit zugleich den Schutzraum für freies, alle bürgerliche Spießigkeit durchbrechendes Denken darstellt. Parallelen zu Horkheimer und Adorno, den großen Lehrern von Jürgen Habermas, drängen sich auf - auch ihnen bot die bürgerliche Herkunft jenen Freiraum, den es braucht um aus der philosophischen Tradition Funken zu schlagen für eine Neuorientierung in Zeiten einer aus den Fugen geratenen Moderne.
Bloß nicht altersfromm erscheinen!
Und wie bei Adorno und Horkheimer, so drängt auch beim späten Habermas die Religion immer wieder stärker in den Fokus. Einspruch! ruft Habermas angesichts dieser Lesart dazwischen und man merkt sein Unbehagen, sich öffentlich zum Thema Religion zu äußern. Schließlich sei er nicht nur religiös weitgehend unmusikalisch, er möchte - wie es scheint - auch jeden Eindruck vermeiden, der ihn als altersfrommen Denker erscheinen lässt. Sein neuestes Werk bietet diesbezüglich genügend Stoff: Schließlich ist es kein theologisches oder gar religiöses Werk, sondern zuallererst eine Positionsbestimmung innerhalb der Philosophie; also eine Selbstverständigung darüber, was eine Philosophie heute noch aus guten Gründen aussagen kann, um das kränkelnde Projekt der Moderne zu verteidigen.
Zugleich aber räumt Habermas im Gespräch ein, dass er gerade von der Lektüre religiöser Klassiker viel gelernt habe - gewiss nicht im religiösen Sinne, sondern als Philosoph. Ein wichtiger, ein wesentlicher Unterschied! Aha-Erlebnisse nötigten ihm etwa die Lektüre des Hl. Augustinus ebenso ab wie jene Luthers oder gar Karl Rahners. Es habe ihn beeindruckt, wie stark die katholische Theologie selbst in den Diskurs nachmetaphysischen Denkens verwoben war - und wie wichtig es daher aus philosophischer Sicht sei, den Blick weit zu halten und auch an jene Bereiche, die früher mal Metaphysik genannt wurden, zumindest noch als einen Wissensbestand zu erinnern, aus dem die Vernunft sich herausgeschält hat.
Vom Pfahl im Fleisch der Moderne
Dann der unvermittelte Schwenk ins Persönliche: "Nun muss ich Sie aber auch etwas fragen: Liege ich mit meiner These zur religiösen Praxis richtig? Ist der Kultus nach wie vor das Rückgrat einer gläubigen Existenz und der Kirche?" - Der Ritus als Ausdruck einer lebendigen Religiosität ist es, der Habermas interessiert. Was geschieht, wenn gläubige Menschen beten, die Berührung mit dem Transzendenten suchen? Die unbedingten Bindungskräfte, die der Religion entspringen - sie faszinieren und irritieren den kritischen Denker nach wie vor; auch in seiner abschließenden These, dass die Religion nur so lange beanspruchen könne, "ein Pfahl im Fleisch der Moderne" zu bleiben, so lange sie sich auf eine "Praxis der Vergegenwärtigung einer starken Transzendenz stützen kann".
Nach drei Stunden sind Kaffee und Kuchen verzehrt und der Kopf gleichermaßen erschöpft wie erfüllt. Wir stehen am Bahnsteig in Starnberg, die nahe Kirchturmuhr schlägt zur vollen Stunde und ruft zur Abendmesse, so als wollte sie die Thesen des Philosophen augenzwinkernd kommentieren. Wird sich Habermas mit diesem Werk dem Sog der Interpreten widersetzen können, die ihn tatsächlich stärker als es ihm lieb ist in die Nähe der Religion rückt? Zweifeln lässt am Tag 1 der Veröffentlichung seines neuen Werkes ein Blick in die Bestsellerliste des Online-Händlers "Amazon": Dort rangiert das Buch bereits auf Platz 1 - allerdings in der Kategorie "Christliche Meditation & Spiritualität"...
(Jürgen Habermas: "Auch eine Geschichte der Philosophie. Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen; Band 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen", Suhrkamp Verlag, 1.752 Seiten)
In seinem zweibändigen Großwerk "Auch eine Geschichte der Philosophie" folgt der Philosoph den Spuren einer "Genealogie des nachmetaphysischen Denkens" entlang der historischen Debatten über Glauben und Wissen - Von Henning Klingen
Seit über einem halben Jahrhundert ist der Sozialphilosoph Jürgen Habermas Stichwortgeber für gesellschaftliche Diskurse. Dabei spielten immer wieder auch theologische Begriffe und Überlegungen eine Rolle. Eckpunkte einer politisch-theologischen Biografie aus Anlass seines 90. Geburtstags - Ein Porträt von Henning Klingen