Öffnung der Vatikanarchive zum Pontifikat von Papst Pius XII. könnte auch neue Einblicke zur europäischen Einigung oder zum Verhältnis zwischen den USA und dem Vatikan bringen - Erste ernsthafte Ergebnisse frühestens in drei bis fünf Jahren zu erwarten
Rom-Bonn, 20.02.2020 (KAP) Von der Öffnung der Vatikanarchive zum Pontifikat von Papst Pius XII. (1939-1958) ab 2. März erhofft sich der renommierte deutsche Kirchenhistoriker Hubert Wolf auch neue Erkenntnisse zum diplomatischen Verhältnis zwischen den USA und dem Vatikan im 20. Jahrhundert und zur sogenannten Rattenlinie von Nazi-Größen nach Südamerika. "Welche Rolle spielen die US-amerikanischen Netzwerke im Krieg und vor allem danach", fragte Wolf im Interview der Nachrichtenagentur "Kathpress". Der Münsteraner Kirchenhistoriker und sein Team gehören zu den ersten Forschern, die das neue Material im Vatikan sichten können.
Zur Holocaust-Thematik seien die meisten Archivbestände in Deutschland, USA und Großbritannien bereits ausgewertet, so Wolf. Etwa zur sogenannten Rattenlinie, also den Fluchtrouten von Nationalsozialisten nach Südamerika am Ende des Zweiten Weltkriegs, sei das nicht der Fall. Das Material in Argentinien etwa sei angeblich nicht aufzufinden.
Nun allerdings würden die Berichte des dortigen Papstbotschafters zugänglich, führt der Kirchenhistoriker aus und fragt: "Was wusste dieser von den Vorgängen?" Einen Pass habe der Vatikan "eventuell noch besorgen" können. Doch ein Mann wie KZ-Arzt Josef Mengele habe in Argentinien nur mit einem Visum einreisen können. "Also musste die Regierung in Buenos Aires mitspielen. War der Nuntius dabei der Mittelsmann?", fragt Wolf; "oder lief das ganze über die argentinische Botschaft in Rom?" Der Historiker bilanziert seine Erwartungen: "Wir stellen offene Fragen - und müssen mit allen Antworten rechnen."
Weitere Erkenntnisse erhoffen sich Wolf und sein Team etwa zum Thema europäische Einigung. "Wir wissen, dass Konrad Adenauer, Robert Schuman und Alcide De Gasperi Audienzen beim Papst hatten; jene drei, die das begründeten, woraus die Europäische Union entstanden ist."
Auch seien die Berichte der vatikanischen Gesandtschaft über die Lage in Deutschland interessant, etwa zum Thema Kriegsschuld. Und: "Warum macht der Papst im ersten Konsistorium 1946 drei Deutsche zu Kardinälen: Galen, Frings und Preysing?" Und warum erkannte der Heilige Stuhl den Staat Israel erst 1994 an und nicht nach seiner Gründung 1948? Mit ersten ernsthaften Ergebnissen dürfe man insgesamt frühestens in drei bis fünf Jahren rechnen, so der renommierte Kirchenhistoriker.
Neues in drei bis fünf Jahren
Erste ernsthafte Ergebnisse nach der Öffnung der Vatikanarchive erwartet Wolf frühestens in drei bis fünf Jahren. Erstes Ziel seines Teams sei eine Annäherung an das Thema "Pius XII. und der Holocaust", sagte er im "Kathpress"-Interview.
Der Kirchenhistoriker möchte das Thema "gerne gemeinsam mit jüdischen Kolleginnen und Kollegen angehen". Zu den "richtigen Quellen" brauche es auch eine breite und womöglich kontroverse Interpretation. Dazu wolle er die einschlägigen Quellen auch "für alle zugänglich online veröffentlichen".
Zu seiner eigenen Motivation sagte Wolf, er habe mehrfach mit Holocaust-Überlebenden gesprochen. "Wenn mir dabei bald 90-Jährige sagen: 'Sorgen Sie dafür, dass wir erfahren, warum der Papst nicht laut protestierte', und man gibt einer solchen Persönlichkeit die Hand, dann ist das ein moralisches Versprechen, saubere Arbeit zu machen."
"Sehr genau hinschauen"
Der Historiker warnte: "Wenn jemand ein einzelnes Dokument findet, das Pius XII. ganz hell oder ganz dunkel dastehen lässt, wäre ich vorsichtig." Bei einem solchen Thema verlange "der Respekt vor den Opfern, aber auch der Respekt vor Pius XII. selbst, erst einmal die Bestände umfassend durchzuarbeiten - und dabei sehr genau hinzuschauen".
Es gehe zumeist um komplexe Prozesse, so Wolf: "Was wird intern diskutiert? Wann weiß der Papst was? Wie wird er beraten? Wen schaltet er ein? Was passiert? All die Antworten auf solche Fragen müssen sauber miteinander verknüpft werden." Dafür werde sich sein Forscher-Team aufteilen und zunächst klären, welche Fragen mit welchen Archivbeständen zu beantworten sind. Abends wolle man sich dann darüber austauschen, was man tagsüber gefunden habe, erklärte der Kirchenhistoriker zur Vorgangsweise.
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