Wiener Kirchenhistoriker Klieber: Öffnung 2020 verspricht neue Erkenntnisse über das Pontifikat von Pius XII. in Hinblick auf die österreichische Geschichte - Aufgabenkatalog für Wissenschafter "prall gefüllt"
Wien, 27.01.2023 (KAP) Die Öffnung der vatikanischen Archivbestände zum Pontifikat Pius XII. (1939-1958) im Frühjahr 2020 verspricht für den Wiener Kirchenhistoriker Rupert Klieber neue Herausforderungen für Österreichs Kirchengeschichte. Nachdem die Archivarbeit vor Ort durch die Corona-Pandemie ausgebremst wurde, nehme die internationale Forschung inzwischen wieder Fahrt auf. Dies betreffe auch das "kirchenhistorische Terrain" in Österreich, berichtete Klieber am Freitag gegenüber Kathpress. Anknüpfen könnten Wissenschaftler an die Erfahrungen, die ab 2008 mit den Beständen für Pius XI. gesammelt wurden, zeigte er sich überzeugt.
Der Kirchenhistoriker sieht insbesondere drei Themenfelder rund um das Pacelli-Pontifikat für Österreich beachtenswert: So gebe es zahlreiche neue Hintergrund-Informationen und Facetten für den Bereich "Kirche im NS-Staat" sowie "Kirche im Weltkrieg", die es zu erforschen gelte. Bislang unbekannt war etwa, dass der letzte Dekan der Wiener Theologischen Fakultät, Johannes Hollnsteiner, seine Befreiung aus dem KZ Dachau einer Intervention dreier Persönlichkeiten (u.a. Franz Werfel) im Vatikan verdankte. Auch gebe es "eine Flut" an Bittschriften aus der Nachkriegszeit, die von Bitten um Intervention und Hilfe, über die Errichtung seelsorgerischer Strukturen in den Lagern, bis hin zu Penicillin-Spenden reichen. Als dritten Punkt machte Klieber Berichte zur kirchlichen und politischen Lage Österreichs zwischen 1945 und 1958 aus.
Neue Erkenntnisse versprächen zahlreiche Schreiben jüdischer und jüdisch-katholischer Bittsteller, aber auch Vorstöße Kardinal Innitzers zu ihren Gunsten, zeigte sich Klieber überzeugt. "Kirchenhistorisch interessant sind die Hintergründe der heiklen kirchlichen Personalpolitik dieser Jahre", etwa das kuriale Drängen auf Koadjutoren - gleichsam "Ersatz-Bischöfe" für den Rest der Amtszeit - für den Linzer Bischof Johannes Gföllner, aber auch den Wiener Kardinal Theodor Innitzer bereits 1940, was letzterer erfolgreich abwehren konnte. In den Beständen fänden sich zudem Hintergrundberichte über eine bislang wenig beachtete Belagerung Innitzers durch Hitler-Jugendliche im Stephansdom am Abend des 8. Dezember 1941, die erst durch die Gestapo beendet werden konnte.
Die Bittschriften an den Papst würden vornehmlich die verzweifelten Versuche dokumentieren, nach dem Krieg mehrere Wellen von Flüchtlingen zu bewältigen, die durch Mitteleuropa zogen und in Österreich vorläufig oder dauerhaft Aufnahme fanden, so Klieber. Die von Seelsorgern der Geflüchteten eingesandten Berichte böten eine Zusammenschau, etwa über die große Fluchtbewegung aus Ungarn 1956, die sonst kein anderes Archiv so kompakt bieten kann, betonte der Kirchenhistoriker.
Einblicke in kirchliche Innenpolitik
Weiters würden sich neben Berichten aus dem dezidiert katholischen Lager wie dem vormaligen Wiener Bürgermeister im Schuschnigg-Regime, Richard Schmitz, etwa auch die Mitschrift eines Gesprächs von dessen sozialdemokratischen Vorgänger Karl Seitz mit einer Beurteilung der russischen Besatzer finden. Interessant sei auch zu beobachten, wie sich durch die Wiederkehr der Nuntien nach Wien das "Karussell der kirchlichen Innenpolitik" allmählich wieder schneller zu drehen begann.
Hier reiche die Bandbreite von einer Evaluation der gesamten Professorenschaft der Wiener Katholisch-Theologischen Fakultät über die Hintergründe der Bischofsbestellungen dieser Jahre - u.a. von Franz Jachym, Franz König und Josef Schoiswohl - bis zur diskreten Abwicklung eines ersten Finanzskandals mit Kirchenbeitragsmitteln in der Diözese Seckau ab 1950, die in die Ablöse von Bischof Ferdinand Pawlikowski mündete.
"Der Aufgabenkatalog ist somit prall gefüllt", so Klieber, die Weichen für ein erstes mehrjähriges Projekt eines Nachwuchs-Wissenschaftlers seien bereits gestellt. Zu hoffen bleibe insgesamt, dass sich zahlreiche Kirchenhistoriker dazu motivieren ließen, sich diesem "lohnenden Feld" der neuen Quellenbestände zu widmen.
Team um Kirchenhistoriker Wolf bearbeitet an den Vatikan gerichtete Bittschreiben von 15.000 verfolgten jüdischen Menschen aus ganz Europa während der NS-Zeit für eine Online-Edition - Projekt "Asking the Pope for Help" soll Impulse für Erinnerungskultur geben