Theologe und Religionswissenschaftler Máté-Tóth über Religion, Gesellschaft, Christentum und Regierung in Ungarn vor dem Besuch von Papst Franziskus
Budapest/Wien, 17.04.2023 (KAP) Auch in Ungarn sind aus religionssoziologischer Sicht Prozesse einer voranschreitenden Säkularisierung klar zu erkennen. "Wie in anderen europäischen Staaten schrumpft die Volksreligiosität und die Kirchen sind noch auf der Suche nach neuen Wegen der Glaubensweitergabe", sagt der Theologe und Religionswissenschaftler András Máté-Tóth von der Universität Szeged im Interview der Nachrichtenagentur Kathpress. Im Land zu beobachten sei aber auch eine tiefe Veränderung von Religiosität, da die politische Massenkommunikation seit Jahren stark darauf setze, das Christentum zu einer Marke für bestimmte politische Einstellungen zu machen, erklärt Máté-Tóth in dem Gespräch über Religion, Gesellschaft, Christentum und Regierung in Ungarn vor dem Besuch von Papst Franziskus.
9,6 Millionen Menschen leben in Ungarn. Rund zwei Drittel von ihnen sind katholisch getauft und bei einer Eurobarometer-Umfrage 2019 bezeichneten sich rund 60 Prozent als katholisch. Zur Volkszählung 2011 freilich identifizierten sich nur 39 Prozent als Katholiken, dahinter folgten 11,6 Prozent Reformierte (Calvinisten) und 2,2 Prozent Lutheraner. Neben wenigen Orthodoxen, Baptisten oder Zeugen Jehovas gibt es im Land auch die wachsende pfingstlich-charismatische "Gemeinschaft des Glaubens". Zu beachten ist, dass beim Zensus mehr als ein Viertel der Befragten (27,2 Prozent) die Möglichkeit nutzte, die Frage zur Religionszugehörigkeit nicht zu beantworten. 18,2 Prozent bezeichneten sich ausdrücklich als konfessionslos.
Religionsdaten aus der jüngsten Volkszählung im Herbst 2022 sind noch nicht öffentlich. "Unter Experten gibt es die Vermutung, dass wir weniger als 50 Prozent Religionszugehörigkeit haben werden", berichtet der Religionswissenschaftler Máté-Tóth, der insbesondere zum religiösen und kirchlichen Wandel in Ostmitteleuropa und neuen Formen von Religiosität forscht. "Und das ist sozusagen eine Schmerzgrenze, zu sagen, dass sich Hälfte der Bevölkerung keiner Religionsgemeinschaft mehr zugehörig fühlt."
Einen Grund für die weniger werdende Volksreligiosität sieht Máté-Tóth im Trend, dass immer mehr Menschen aus ländlichen Regionen in die Städte ziehen. "Dort verlieren sie die Routine der Glaubenspraxis, den regelmäßigen Kirchgang, auch den lebendigen Kontakt mit den Großeltern, die noch eine volkskirchliche Religiosität bewahren." Die nachfolgende Generation der Enkelkinder habe dann gar keine Beziehung mehr zu religiösen Gebräuchen.
Laut Máté-Tóth zeigen Daten zur Religiosität auch eine Kurve in U-Form über die Generationen hinweg. Auf die religiöse ältere Generation folgen heute um die 40 Jahre alten Menschen, die sehr wenig religiös sind. Anders als man erwarten würde, gibt es dann wieder eine jüngere Generation, die ein bisschen religiöser ist. Warum das so ist, darüber rätseln die Religionssoziologen noch, so Máté-Tóth, denn: "Die großen kirchlichen Gemeinschaften haben die Gesprächsbasis mit den jüngsten Generationen vollkommen verloren. Aber das ist nicht nur in Ungarn, sondern auch in anderen Ländern so."
Auch viele "Inseln lebendiger Religiosität"
Während der Jahrzehnte des kommunistischen Regimes gab es in Ungarn praktisch keinen Religionsunterricht. Dennoch rät Máté-Tóth zur Vorsicht, diese Zeit als Erklärungsmuster für fehlende Glaubensweitergabe heranzuziehen. "Man konnte etwa in den 1980er Jahren in Ungarn ziemlich frei über Religion sprechen. Zwar war die Religion vom Schulsystem ausgeschlossen, die Kirchen waren aber aktiv, gerade unter Jugendlichen." Allerdings hätten die Kirchen Theologie und Religionspädagogik nicht erneuert, eine kirchliche Erneuerung sei nicht gelungen. "Sie haben nicht gelernt, mit Jugendlichen in deren heutiger Sprache zu kommunizieren."
"Inseln der lebendigen Religiosität" gibt es laut Máté-Tóth aber auch heute im Land. "Da geschieht vieles in Ungarn und auch in anderen ehemaligen kommunistischen, sozialistischen Ländern." Exemplarisch verweist der Religionswissenschafter auf die Volksgruppe der Roma und lebendige Gemeinschaften im charismatischen Bereich, in der griechisch-katholischen Kirche, den protestantischen Kirchen und teilweise auch bei den Buddhisten. Vor allem in östlichen Landesteilen kämen viele kleine Gruppen zusammen, die eine von viel Gesang geprägte Spiritualität lebten. "Für diese Menschen ist Religion wirklich Sinn des Lebens, auch im Umgang mit persönlichen Schicksalsschlägen."
Und auch innerhalb der größeren Kirchen finde man lebendige Religiosität und eine Spiritualitätskultur, so der Experte. Máté-Tóth: "'Nur dort ist Kirche, wo es Gemeinschaft gibt', hat ein Bischof einmal gesagt, und er hatte recht. Wir sehen in den vergangenen 30 Jahren, dass es wirklich so ist, dass nicht die Institutionen, sondern glaubwürdige Persönlichkeiten und gute Kommunikationskanäle sichern, dass Religion erlebbar ist und weitergegeben wird."
Politische Kommunikation besetzt Thema Religion
Kritisch sieht der ungarische Religionswissenschaftler die starke Präsenz der Politik beim Thema Religion. Die Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán kommuniziere zur Erreichung ihrer Ziele stark emotionsgeladen und löse damit oft heiße Diskussionen aus. "Diese Art der Machtausübung reißt auch viele religiöse Menschen mit sich", erklärt Máté-Tóth. Dem Experten vorliegende Daten deuten darauf hin, dass viele Ungarn über Religion oder konkret das Christentum nicht durch die Kirchen erfahren, sondern vor allem durch die Politik und die politische Massenkommunikation mit ihrer oft sehr einfachen und emotionalisierenden Sprache. "Unabhängig von den Kirchen und einem fundierten Wissen über Religion, Evangelium oder die Perspektive des Christlichen, wurde das Christentum - auch Katholizität und Protestantismus - so zu einem Merkmal für eine bestimmte politische Einstellung zu heiß diskutierten Themen", sagt Máté-Tóth.
Bei der Flüchtlingskrise haben man dies ebenso beobachten können, wie nun im Zuge des russischen Kriegs in der Ukraine. "Menschen, die sich mehr von der Regierungspolitik angesprochen fühlen, relativieren dann alles, was christlich ist", so der Forscher. Diese tiefe Veränderung der Lage der Religiosität mache auch vielen Priester und Ordensleuten Sorge, meint Máté-Tóth: "Nicht in der Öffentlichkeit, aber unter sich, sprechen sie darüber, wie schwierig oder auch aussichtslos es ist, diesem Trend der sehr starken Präsenz der Politik in diesem Bereich entgegenzuwirken."
Eben diese wirkt sich nämlich nicht unbedingt positiv auf eine allgemeine Religiosität in der Bevölkerung aus, weist der Experte auf Erkenntnisse aus der religionssoziologischen Forschung hin. "Wenn wir die Menschen fragen 'Was erwarten Sie von Religion und Kirche?', dann sagen sie 'Wir erwarten vor allem Harmonie, Ruhe, Frieden, Stille und Einkehr.'" Das sei eine mögliche Erklärung, warum viele Menschen heute in der Öffentlichkeit Abstand von Religion nehmen, denn, so der Forscher: "Religion und Kirchen erscheinen in der Öffentlichkeit eben nicht als Ort der Harmonie oder Konfliktlösung mit gewaltlosen Mitteln, sondern sehr überpolitisiert und von der politischen Seite bestimmt und diskutiert - also das genaue Gegenteil dessen, was sich die Menschen erhoffen."
Orbán-Regierung "nicht nur schwarz-weiß sehen"
Zur Religionspolitik der ungarischen Regierung und deren Betonung des "Christlichen" plädiert Máté-Tóth gleichzeitig dafür, über ein Schwarz-Weiß-Denken hinaus die "sehr komplexe Realität" wahrzunehmen. Regierung und Staat unterstützten die Kirchen finanziell großzügig. Es würden Gotteshäuser renoviert, Kirchengemeinden sowie Schulen aufgebaut und auch andere Einrichtungen, "in denen Solidarität und kirchliche Projekte des Gemeinwohls erlebbar sind", so Máté-Tóth. "Das ist also nicht alles schlimm." Auch zur insbesondere von der politischen Opposition, aber auch in Kreisen in der Kirche artikulierten Kritik an der Orbán-Regierung, wonach all dies kein Ausdruck echter Religiosität sei, sondern nur aus politischen Gründen vorgeschoben, ist der Religionsforscher zurückhaltend. "Ich bin mir da nicht ganz sicher. Ich erlebe seitens der wichtigsten Politiker und Funktionsträger der Regierung auch wahrhaftige Gesten religiösen Glaubens, die man nicht strategisch eingeübt hat", so Máté-Tóth.
Tatsache ist, dass sich nicht nur die katholischen, sondern auch die reformierten Bischöfe Ungarns heute nur selten zu gesellschaftspolitischen Themen zu Wort melden. Máté-Tóth sieht die Hintergründe dafür auch in der Geschichte. Viele der aktuellen Kirchenspitzen hätten niemals die nicht bloß über einige Jahre, sondern über Jahrzehnte hinweg anhaltende Erfahrung einer "lebendigen Kirche, in einer stabilen Demokratie" gemacht. Ihm gegenüber argumentierten Kirchenvertreter ihre Zurückhaltung aber auch mit der üblen Diskussionskultur in der Öffentlichkeit, in die sie nicht einsteigen wollten, so Máté-Tóth. Auch hätten Hirtenworte, wie sie in anderen Ländern üblich sind, keine große Tradition.
Eines sei zuletzt aber deutlich geworden, so der Religionsforscher: "Früher gab es sehr eindeutig parteipolitische und die Regierungsparteien Fidesz und KDNP unterstützende Wortmeldungen. Das gibt es deutlich seltener." Generell sieht auch Máté-Tóth, dass es in Ungarn zu wenige souveräne zivilgesellschaftliche Akteuren gibt, die sich gesellschaftspolitisch äußern. Die wenigen vorhandenen Bewegungen auch aus dem kirchlichen Bereich seien nur sehr leise.
"Ungarn wollen die EU nicht verlassen"
Zum oft diskutierten Verhältnis Europa, EU und Ungarn plädiert der Religionsforscher zum Blick hinter politische Kommunikation und deren Schlagworte. "Die Regierung will EU nicht verlassen und die Ungarn wollen die EU nicht verlassen. Da ist das absolut klar", betont Máté-Tóth. Der Regierungsstil Orbáns basiere auf Konflikt, so der Forscher: "Er ist im Kampf der Erfolgreichste und hier absolut effektiv. Wenn es keinen Konflikt gibt, dann schläft er ein. Wenn also von der EU gerade nichts kommt, dann sucht er etwas aus der europäischen Unionspolitik, um dagegen kämpfen zu können. Unabhängig davon wie man seine Positionen teilen kann oder gerade nicht, er denkt, dass er mit diesem husarischen Rhythmus die kollektive Identität des Landes und nicht zuletzt seine Befürworter stärken kann. Ich sympathisiere nicht besonders mit diesem politischen Stil. Aber eines muss ich sagen: Orbán ist von einem Viertel der Bevölkerung bei allen Wahlen der letzten zwölf Jahren gewählt. Er ist politisch erfolgreich und wir wissen nach Machiavelli, dass in der Politik der Erfolg der erste Maßstab ist."
Auch 30 Jahre nach der Wende gebe es in Ungarn gesellschaftlich viele offene Fragen, deren Beantwortung Zeit braucht, fügt Máté-Tóth hinzu. "Ich denke, man kann die Lage in Ungarn und in anderen sozialistischen Ländern auch als eine große Suche danach betrachten, wie Demokratie, aber auch Privatwirtschaft oder kapitalistische Wirtschaft funktionieren." Für Ungarn, aber auch Länder wie Polen oder Bulgarien seien nicht Frankreich oder Deutschland der absolute Maßstab. "Es gibt Werte und Zielsetzungen und Wünsche der Bevölkerung, die in irgendeiner Art und Weise gemanagt werden müssen. Und da gibt es eine verwirrende Vielfalt aus negativen, aber auch vielen positiven Dingen."
Papst eine Persönlichkeit mit Strahlkraft
Auf den bevorstehenden Besuch von Papst Franziskus im Land blickt Máté-Tóth nüchtern. Ungarns katholische Kirche sei zu recht sehr stolz und freue sich darauf, dass der Papst kommt. Nachhaltige Auswirkungen für die Religiosität erwartet der Experte aber nicht. Für die meisten Ungarn sei der Papst vor allem eine berühmte Persönlichkeit, der sie im Prinzip positiv gegenüberstehen. "Sie sehen ihn als einen weltweit bekannten Opa, der viel lächelt und dem man gut zuhören und auch seinen Humor genießen kann. Das ist die allgemeine Stimmung hier."
Im Zuge der Flüchtlingskrise 2015/16 hätten manche politische Kommentatoren regierungsnaher Medien Franziskus öffentlich übelst attackiert und auch Aussagen des Papstes aus dem Kontext gerissen, erinnert der Religionsforscher. Mittlerweile gebe es in Ungarn aber kaum noch Kritik am Papst. Zwar erwartet Máté-Tóth, dass auch beim aktuellen Besuch im Vorfeld noch konfliktbeladene Themen wie Flucht und Migration oder aber Aussagen von Franziskus etwa zu homosexuellen Menschen und der Seelsorge für LGBT-Menschen hochgespielt werden. "Aber schon 2021 beim Eucharistischen Weltkongress haben wir gesehen: Wenn der Papst dann da ist und zu den Leuten spricht, verstummen diese Stimmen. Die Persönlichkeit und die Gesten des Papstes siegen dann und übermitteln seine Botschaft über den liebenden Gott."
(Diese Meldung ist Teil eines Kathpress-Themenschwerpunkts zur Papstreise nach Ungarn. Alle Meldungen, Stichworte und Hintergrundberichte sind gesammelt abrufbar unter: www.kathpress.at/Papst-in-Ungarn)