Wiener Kirchenhistoriker rät in Abschiedsvorlesung, "ortsfremde Nuntien zu entlasten und Erst-Auswahl von Kandidaten wie in den 1700 Jahren zuvor wieder Einheimischen zuzutrauen" - Kirchengeschichte muss "auch die 'gelebte', zuweilen 'erlittene' Tradition beachten"
Wien, 23.05.2023 (KAP) Kirchengeschichte verhindere, "die Gegenwart absolut zu setzen" und erinnere an "ungenutzte Möglichkeiten" etwa bei Bischofsernennungen. Darauf wies der Kirchenhistoriker Rupert Klieber am Dienstag in seiner Abschiedsvorlesung an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien hin und stellte dazu eine Frage mit Aktualitätsbezug angesichts der absehbaren Ablöse des Wiener Erzbischofs Kardinal Christoph Schönborn, der Papst Franziskus bereits 2019 wegen Erreichen der Altersgrenze von 75 Jahren sein Rücktrittsgesuch übergab: "Wenn 1927 Salzburg zugestanden wurde, eine Liste von episcopabili (für das Bischofsamt Geeigneten, Anm.) für den Papst vorzulegen, warum nicht auch Wien 2023?"
Klieber unterteilte seine Abschiedsvorlesung nach der Begrüßung durch Theologie-Dekanin Andrea Lehner-Hartmann und vor zahlreichen akademischen Weggefährten in zwei Abschnitte: Er beleuchtete zunächst Bischofsernennungen für Österreich vor und nach 1918 und stellte die Frage nach Kriterien für einen bestmöglichen Modus. Und stellte danach die grundlegende Frage: Wozu dient Kirchengeschichte?
Der mehrfach ausgezeichnete und aktuell mit der Österreich-bezogenen Auswertung der Vatikan-Archive der Ären Pius XI. und Pius XII. befasste a.o. Professor für Kirchengeschichte legte anhand zahlreicher Beispiele dar, welcher Bischof "im großen alten und kleinen neuen Österreich wie ins Amt gelangte" und widmete sich dabei der Qualität der angewandten Auswahlverfahren. Dass sich "ein kleiner Kirchenhistoriker von jenseits der Berge erkühnt [...], Papst-Entscheide zu taxieren", sei keine Anmaßung, sondern basiere nach der Öffnung der Archive auf einer guten Quellenlage. "Auch bewerte ich nicht die Qualität der Bestellten, sondern der Bestell-Prozesse - Gott kann bekanntlich auch auf krummen Zeilen gerade schreiben", fügte Klieber hinzu.
Der Forscher trat der gängigen, aber "verkürzten" Ansicht entgegen, wonach bis 1918 der Kaiser die Bischöfe bestimmt habe, dann der Papst. Allein zwischen 1913 bis 1938 seien sechs verschiedene Verfahren zur Anwendung gekommen, in denen auch das Domkapitel von Salzburg mit seinem Wahlprivileg, die Nuntiaturen, die einflussreichen Wiener Erzbischöfe und vatikanische Kongregationen etwa unter Staatsekretär Eugenio Pacelli - dem späteren Papst Pius XII. - wichtige Akteure gewesen seien.
"Romtreue" nach Umbruch von 1918
Zu Zeiten der Monarchie ernannte und davor von Hoch-Beamten ausgewählte Bischöfe seien zu einem Treueeid gegenüber dem Kaiser verpflichtet und damit politisch abhängig gewesen, wies Klieber hin. "Vorzüge waren Sorgfalt und Transparenz der Suche, die schriftlich und argumentierend verlief" und meist gelehrte, bewährte und maßvolle Kirchenmänner in Verantwortung brachte. Der Umbruch von 1918 habe dann "Herrscherhäuser samt Kirchenrechten hinweggefegt", der Nuntius in Wien nur mehr für sechs statt davor 56 Bistümer zuständig (Eisenstadt, Innsbruck und Feldkirch wurden erst später eigenständige Diözesen, Anm.).
Im Sinne der Kirchenfreiheit sei der durch das neue Kirchenrecht von 1917 rechtlich abgesicherte "Transfer der Prozesse von Österreichs Hochbürokratie zur Kurie gerade rechtzeitig" gekommen, führte Klieber aus. Vorteile seien "die rein kirchliche Agenda" in Zeiten antidemokratischer Staatsführungen und eine überregionale Auswahl der Kandidaten gewesen. Der Preis dafür war Intransparenz, so der Kirchenhistoriker: "Bis 1918 hatten sich die Instanzen ausgetauscht, seither gelangten Nachrichten fast exklusiv durch eine Einbahn via Nuntius gen Rom, was ihm eine unangebrachte Dominanz einräumt". Den Anwärtern sei vorrangig "Rom- und Linientreue" abverlangt worden.
Dass die "Untiefen vatikanischer Diplomatie" auch nach 1945 den Lauf bestimmten, kann laut Klieber ein "simples Name-Dropping" zeigen: Unter demselben Papst Johannes Paul II. wurden mit Nuntius Mario Cagna die Bischöfe Egon Kapellari, Maximilian Aichern und Reinhold Stecher bestellt, mit Nuntius Michele Cecchini aber Hans Hermann Groer, Georg Eder und Kurt Krenn. "Leitung, die spaltet statt eint, versagt", merkte Klieber dazu an.
"Oben" soll nicht tun, was "Unten" besser kann
Als Kirchenhistoriker rate er nach 100 Jahren gemischter Erfahrung mit Bischofsernennungen, die Scheu vor klaren Verfahrensregeln abzulegen: "Wir haben mit den Domkapiteln in jedem Bistum kirchliche Senate aus verdienten und kundigen Kirchenmännern. Sie könnten in Abstimmung mit dem Metropoliten oder Vorsitzenden der Bischofskonferenz eine Liste von beispielsweise sieben Kandidaten erstellen, aus der Rom auswählt: maximal drei aus dem Bistum und je zwei aus anderen bzw. Orden, um provinzielle Enge zu meiden", so Kliebers Vorschlag. Einen solchen Modus könne Rom aus freien Stücken und bis auf Widerruf jederzeit zugestehen. Klieber erinnerte an das Subsidiaritätsprinzip der Kirchlichen Soziallehre und an einen Grundsatz moderner Betriebsführung, wonach zu vermeiden sei, "dass 'Oben' tut, was 'Unten' besser kann". Es empfehle sich, "die ortsfremden Nuntien zu entlasten und die Erst-Auswahl von Kandidaten wie in den 1700 Jahren zuvor wieder Einheimischen zuzutrauen". Politiker sollten weder durch Vorder- noch Hintertüren mitmischen können.
Abschließend stellte Klieber die Frage: "Wozu dient Kirchengeschichte, so sie ihr Handwerk beherrscht und mehr sein will als der historische Aufputz anderer Fächer der Theologie oder Nacherzählerin der Standard-Narrative?" Seine Antwort: Relevante Kirchengeschichte werde sich weiterhin der Spiritualität von Heiligen, den Theologien der Gelehrten, dem Gebaren von Amtsträgern als normierter Tradition widmen. "Sie wird aber auch die 'gelebte', zuweilen 'erlittene' Tradition beachten", betonte Klieber. Nicht erst die zuletzt "geplatzten Eiterbeulen des Missbrauchs" hätten etwa eine fatale Betriebsblindheit für Opfer kirchlicher Vorgaben und Strukturen offenbart, die es zu überwinden gelte.
Auch bei der Ehelosigkeit von Klerikern müsse neben den ertragreichen Freiräumen durch diesen Verzicht auch das Leid vieler Frauen und Kinder gesehen werden, die die Zölibatsverpflichtung fordere. Klieber: "Kann man die Ideale rechtlich festzurren, wie das einzig die römische Kirche seit genau eintausend Jahren versucht?"
Es gab auch viele "Best-practice-Fälle"
Kirchenhistorie könne aber auch mit "Best-practice-Fällen" aufwarten: Klieber erwähnte u.a. das Pionier-Spital der Johanniter in Jerusalem als "Kollateralnutzen der Kreuzzüge", die Beghinen-Stadtvierteln im Hochmittelalter, die Frauen Schutz und Ausbildung boten, und das Toleranzmodell Siebenbürgen für vier Konfessionen, die sich im Rest Europas bekriegten. "Ungenutzte Möglichkeiten" sollten genutzt werden, riet Klieber mit Blick auf das Thema Frauen und Kirche: "Wenn die thüringische Königstochter Radegund im 6. Jh. zur Diakonin geweiht werden konnte, warum nicht die Winzertochter Andrea Lehner-Hartmann im 21.?" Kliebers leidenschaftlicher Appell an seine Zuhörenden: "Es ist unsere verdammte Pflicht als Theologen an Universitäten, all unser Hirnschmalz aufzuwenden, die positiven Potenziale von Religion zu stärken, negative zu eruieren und zu bannen."