Aleppo: Bevölkerung in großer Furcht und ohne Versorgung
01.12.202414:40
Syrien/Kirche/Krieg
Nordsyrische Metropole komplett von dschihadistischen Milizen eingenommen - Linzer Hilfswerk ICO berichtet von unübersichtlicher Lage - Bischöfe um Beruhigung der Menschen bemüht, Perspektive für die verbliebenen Christen aber düster
Damaskus/Linz, 01.12.2024 (KAP) Die nordsyrische Metropole Aleppo ist von dschihadistischen Milizen vollständig eingenommen worden. Führenden Kirchenvertreter haben inzwischen angekündigt, dass sie trotzdem vorerst bleiben wollen. Die Sonntagsgottesdienste mussten aufgrund einer Ausgangssperre aber abgesagt werden. Das in Linz ansässige Hilfswerk "Initiative Christlicher Orient" (ICO) hat unterdessen vom Arzt und Mitbegründer des syrischen Hilfswerks "Blaue Maristen", Nabil Antaki, einen Lagebericht aus Aleppo zugespielt bekommen. Die Bevölkerung ist zutiefst verängstigt und sich selbst überlassen.
Nabaki berichtete von einer ersten Ausgangssperre von Freitag, 23 Uhr, bis Samstag 8 Uhr morgens. "Als wir am Samstagmorgen aufwachten, waren an allen Kreuzungen der Stadt Soldaten postiert." Vor 11 Uhr habe sich niemand in die Stadt gewagt, "dann war in Aleppo ein wenig Aktivität zu spüren".
Laut Aussagen der Einwohner von Aleppo würden die dschihadistischen Kräfte hauptsächlich aus Saudis, Tschetschenen, Pakistanern und russischen Muslimen bestehen. Bislang seien keine Übergriffe gegen Zivilisten, auch nicht gegen Christen, bekannt. Aber die Christen hätten nichtsdestotrotz große Angst. Antaki: "Wir haben gesehen, was sie den Christen in Idlib angetan haben."
Laut Aussagen anderer Bewohner Aleppos, mit denen die ICO in Kontakt ist, würden die Milizen gezielt nach Angehörigen des syrischen Militärs, der Geheimdienste, aber auch nach versprengten Hisbollah-Leuten suchen. Es seien allerdings verschiedene Milizen ohne gemeinsame Kommandostrukturen in der Stadt. Die Lage sei unübersichtlich.
Angst und Unsicherheit
Die Bischöfe der Stadt kommunizierten über soziale Netzwerke und versuchten, die Ängste der Gläubigen zu beruhigen, indem sie sie auffordern, "sich zu beruhigen und nicht in Panik zu geraten".
Wie Nabil Antaki berichtete, sei am Samstag um 17 Uhr eine 24-stündige Ausgangssperre in Kraft getreten. Die Sonntagsmessen mussten abgesagt werden. Restaurants und Geschäfte seien geschlossen. Nur wenige Lebensmittelgeschäfte hatten am Samstag tagsüber geöffnet, sodass die Menschen in Aleppo Vorräte anlegen konnten.
Die Lebensbedingungen würden immer schlimmer. Normalerweise sei der Strom rationiert und werde oft abgestellt. Dann könne man über Generatoren Strom beziehen. Doch diese seien aufgrund der Ausgangssperre derzeit nicht erreichbar. Benzin gebe es auch so gut wie keines. Die Menschen hätten keine Möglichkeiten mehr, ihre Wohnungen zu heizen. Nachts würden die Temperaturen auf null Grad sinken.
Da die Autobahn M5, die kürzeste Verbindung von Aleppo in den Süden des Landes, von den Dschihadisten kontrolliert wird, seien viele Einwohner, darunter viele Christen, über die Nebenstraße geflohen. Antaki: "Es gibt einen riesigen Stau. Es dauert 13 Stunden, um nach Homs zu kommen, im Vergleich zu den zwei Stunden, die man normalerweise braucht." - Allerdings geht laut Infos der ICO auch in Homs bereits die Angst um, dass die dschihadistischen Milizen demnächst auch diese Stadt erobern könnten.
Das Zukunftsszenario für die Bevölkerung von Aleppo beschrieb der Arzt Nabil Antaki sehr pessimistisch: "Wenn die syrische Regierung Truppen zur Befreiung Aleppos schickt, werden die Straßenkämpfe und Bombenangriffe ein Blutbad anrichten. Wenn nichts unternommen wird, werden wir unter dem Joch der Dschihadisten bleiben. Es wird nicht besser werden." (Infos und Spenden: www.christlicher-orient.at)
Bewohner ohne Informationen
Der syrisch-orthodoxer Erzbischof von Aleppo, Butros Kassis, hat unterdessen am Samstag über das Portal "SyriacPress" mitgeteilt, dass er und weitere Geistliche in der Stadt bleiben werden. Die Syrisch-orthodoxe Kirche in anderen Teilen Syriens bereite sich auf jene vor, die flüchten wollen.
Der maronitische Erzbischof von Aleppo, Joseph Tobji, sagte am Sonntag gegenüber dem Nachrichtendienst "Fides", dass die Lage derzeit ruhig sei: "Nach den Kämpfen gibt es im Moment Gott sei Dank kein Blutvergießen." Die Stadt sei in den Händen der Milizen. Die örtliche Bevölkerung habe keinerlei Informationen, wie es nun weitergeht.
Die bewaffneten Gruppen, die Syriens zweitgrößte Stadt übernommen haben - so der maronitische Erzbischof - haben Videos und Fotos in sozialen Netzwerken verbreitet, um zu dokumentieren, wie in nur wenigen Tagen ganz Aleppo in ihre Hände gefallen ist. "Im Moment sind wir ruhig, aber wir wissen nicht, was passieren wird. Es ist, als ob die ganze Stadt in der Schwebe lebt. Die Leute wissen nicht, wie sie über die Runden kommen sollen, und sie haben sich nicht mit Vorräten eingedeckt. Niemand hat uns gewarnt", so der Erzbischof.