IKG-Generalsekretär Nägele bei Gedenkveranstaltung in Wien: "Es sind düstere Zeiten, die nicht auf uns zukommen, sondern schon hier sind"
Wien, 14.01.2025 (KAP) Unter den Mitgliedern der jüdischen Gemeinde herrscht angesichts der aktuellen politischen Entwicklung in Österreich Angst. Das hat Benjamin Nägele, Generalsekretär der Israelitischen Kulturgemeinde Wien, beim "Tag des Gedenkens" Montagabend in Wien-Josefstadt betont. Die Veranstaltung im Bezirksmuseum Josefstadt widmete sich der Synagoge in der Neudeggergasse, die 1903 errichtet und während der Novemberpogrome 1938 zerstört wurde.
In seinem Grußwort zeigte sich der IKG-Generalsekretär zutiefst beunruhigt: "Es sind düstere Zeiten, die nicht auf uns zukommen, sondern schon hier sind." Nägele warnte davor, dass Österreich kurz vor einem Kanzler Herbert Kickl stehe, der mit Vokabular und Gedankengut erfolgreich kokettiere, das "wir alle schon dachten, vergessen zu können". Das sei "erschreckend, düster und bitter".
"Wehret den Anfängen, Gedenken, Anerkennung, Verantwortung: All das, wofür wir hier heute einstehen, ist leider nicht genug, wenn wir am Ende da stehen, wo wir jetzt sind", fügte Nägele hinzu. Vor der Schoah lebten in Österreich etwa 200.000 Menschen jüdischen Glaubens. "Nach der Schoah waren es 2.000, jetzt sind es über 8.000." Diese "fragile Pflanze" werde nun erneut durch "toxische, rechtsradikale Narrative" bedroht. Diese Narrative kämen nicht nur aus der Gesellschaft, sondern drohten, staatliche Institutionen zu korrumpieren.
"Jüdische Werte sind österreichische, demokratische Werte", unterstrich Nägele. Ein Angriff auf diese Werte sei ein Angriff auf die Demokratie. Hoffnung gebe es durch zahlreiche kritische Stimmen, die sich gegen diese Entwicklungen positionierten. Er rief dazu auf, verstärkt die Stimme zu erheben und sich nicht zurückdrängen zu lassen.
Das antisemitische Gift breite sich weiter aus und führe zu einer zunehmenden Radikalisierung, sagte Bezirksvorsteher Martin Fabisch (Grüne). Soziale Medien wirkten dabei als Brandbeschleuniger. Als alarmierend bezeichnete er das Erstarken nationalistischer Kräfte weltweit, das auch vor Österreich nicht haltmache. "Eine rechtsextremistische Regierungsbeteiligung ist eine Bedrohung, nicht nur für jüdisches Leben, sondern auch für unsere Demokratie und unser friedliches Zusammenleben." Rechtsextreme hätten kein Interesse daran, bestehende Probleme zu lösen.
"Verlorene Nachbarschaft"
Zum Gedenken an die Jüdinnen und Juden der Josefstadt gründete sich 1998 - 60 Jahre nach den Novemberpogromen - der Verein "Verlorene Nachbarschaft". Dieser setzte mit der Erinnerung an die Synagoge in der Neudeggergasse ein eindrucksvolles Zeichen. 1999 erschien die Publikation "Verlorene Nachbarschaft: Die Wiener Synagoge in der Neudeggergasse - ein Mikrokosmos und seine Geschichte."
Der Initiator des Vereins, Alexander Litsauer, erinnerte am Montag an die turbulenten Anfänge Ende der 1990er-Jahre: "Die FPÖ wollte eine Gassenbefragung, ob man hier überhaupt gedenken darf." Das Ergebnis: Die Mehrheit der Menschen sprach sich dafür aus, nur jene, die in dem Wohnhaus leben, wo sich früher die Synagoge befand, seien mehrheitlich dagegen gewesen. Es wurde ein Kompromiss gefunden, mit dem schließlich alle leben konnten.
Der Präsident des Koordinierungsausschusses für jüdisch-christliche Zusammenarbeit, Prof. Martin Jäggle, betonte, dass die Josefstadt der einzige Bezirk in Wien sei, wo sich schon vor über 25 Jahren eine Gruppe gebildet hatte, um nicht nur der zerstörten Synagoge, sondern auch der Vertriebenen und ermordeten zu gedenken. Bei öffentlichen Institutionen - auch bei der Kirche - gebe es in puncto Gedenkkultur noch viel Luft nach oben, so Jäggle.
"Schnee von gestern, Wasser von morgen"
Gedanken zum Gedenken kamen von der evangelischen Pfarrerin Julia Schnizlein. Sie räumte ein, dass Gedenken heute wohl etwas "aus der Zeit gefallen" wirke. "Die Menschen sagen: 'Wir leben im Heute. Was gestern gesagt wurde, ist heute schon flüchtig und spätestens morgen Schnee von gestern.'" Viele wollten die Vergangenheit ruhen lassen. Das sei aber nicht möglich, denn: "Der Schnee von gestern ist das Wasser von morgen." Alles, was geschehen ist, beeinflusse das, was ist und was noch kommen wird. "Deswegen ist Gedenken so wichtig", betonte Schnizlein.
Awi Blumenfeld vom Institut für jüdische Religion an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/Krems hob die Bedeutung persönlicher Begegnungen hervor. "Lehrkräfte aus Niederösterreich haben leider nicht mehr die Möglichkeit, jüdischen Menschen in der Nachbarschaft zu begegnen. In Wien geht das noch."
Christliche Wurzeln im Judentum
Die Kirchen in Österreich begehen am 17. Jänner den 26. "Tag des Judentums". Das Christentum ist von seinem Selbstverständnis her wesentlich mit dem Judentum verbunden. Damit dies den Christen immer deutlicher bewusst wird, hat der Ökumenische Rat der Kirchen in Österreich (ÖRKÖ) im Jahr 2000 den 17. Jänner als eigenen Gedenktag im Kirchenjahr eingeführt. Dabei sollen sich die Christen in besonderer Weise ihrer Wurzeln im Judentum und ihrer Weggemeinschaft mit dem Judentum bewusst werden. Zugleich soll auch das Unrecht an jüdischen Menschen und ihrem Glauben in der Geschichte thematisiert werden. Dies erfolgt im Rahmen von Gottesdiensten und weiteren Gedenk- und Lernveranstaltungen.
2019 führte der Koordinierungsausschuss für christlich-jüdische Zusammenarbeit gemeinsam mit Partnern eine Dreiteilung des "Tages des Judentums" ein; auf einen "Tag des Lernens", einen "Tag des Gedenkens" und einen "Tag des Feierns" (am eigentlichen "Tag des Judentums" am 17. Jänner).