Untersuchungsbericht zu Missbrauch in Südtirols Kirche vorgestellt
20.01.202515:45
Italien/Kirche/Missbrauch/Aufarbeitung/Südtirol
Münchner Kanzlei Westpfahl-Spilker-Wastl präsentiert von Diözese Bozen-Brixen in Auftrag gegebenes unabhängiges Gutachten für Zeitraum 1964 bis 2023 - Bischof Muser: "Belastender, aber notwendiger Blick auf die Realität"
Bozen, 20.01.2025 (KAP) Als erste Diözese Italiens hat die Südtiroler Diözese Bozen-Brixen eine unabhängige Untersuchung zu Missbrauchsfällen in ihrem Bereich vorgelegt. Die Münchner Kanzlei Westpfahl-Spilker-Wastl (WSW) präsentierte am Montag in Bozen die Ergebnisse ihres mehr als 600 Seiten umfassenden Gutachtens "Sexueller Missbrauch Minderjähriger und erwachsener Schutzbefohlener durch Kleriker im Bereich der Diözese Bozen-Brixen von 1964 bis 2023".
Die Diözese Bozen-Brixen sei die einzige der mehr 200 italienischen Diözesen Italiens, die bislang "den schmerzhaften Weg der Aufklärung" gegangen sei, betonte Rechtsanwalt Ulrich Wastl. Er lobte die gute Zusammenarbeit, Lernbereitschaft und Fehlerkultur der Diözesanleitung. "Hier war von Anfang an der Wille zu Verbesserungen und die Bereitschaft Fehler einzugestehen da - das erleben wir eher selten", hielt Wastl fest. Man habe Zugang zu allen Akten gehabt und sei auch bei der Suche und Kontaktaufnahme mit Zeitzeugen und Betroffenen unterstützt worden.
Aus den rund 1.000 gesichteten Personalakten ergaben sich laut dem Bericht für den von 1964 bis 2023 reichenden Untersuchungszeitraum 67 Hinweise auf Sachverhalte mit möglichen sexuellen Übergriffen, von denen 59 Personen betroffen seien. Hinzu kämen weitere 16 Fälle, die ungeklärt seien. Insgesamt werden 41 Priester beschuldigt - bei 29 Priestern träfen die Vorwürfe entweder mit überwiegender Wahrscheinlichkeit oder nachweisbar zu, bei 12 weiteren konnten die Vorwürfe nicht ausreichend beurteilt werden. Manchen Priestern werden mehrere Taten vorgeworfen.
Hälfte der Betroffenen weiblich
Bei 24 Fällen sexuellen Missbrauchs durch Kleriker hätten Verantwortliche in der Diözese teilweise über Jahre hinweg "fehlerhaft oder zumindest unangemessen gehandelt". Wastl nannte den Fall eines Priesters, der seit den 1960er Jahren kleine Mädchen "begrapscht" und missbraucht habe, aber jahrzehntelang von einer Gemeinde in die nächste versetzt worden sei. Erst 2010 habe man "den Mut gehabt", ihn aus der Seelsorge zu entfernen.
Als Besonderheit nennen die Berichterstatter, dass mehr als 51 Prozent der Betroffenen weiblich waren und nur 18 Prozent eindeutig dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden konnten, sagte WSW-Anwältin Nata Gladstein. Dagegen habe bei Untersuchungen etwa in deutschen Diözesen die Zahl der männlichen Betroffenen bei weitem überwogen. Die meisten Betroffenen waren demnach zum Tatzeitpunkt Kinder und Jugendliche im Alter von 8 bis 14 Jahren. Die meisten beschuldigten Priester waren zum Zeitpunkt der ersten Tat zwischen 28 und 35 Jahre alt.
Neue, noch strafrechtlich zu behandelnde Fälle, seien bei den Untersuchungen bis dato nicht gefunden worden, berichtete Wastl. Er verwies in diesem Zusammenhang auch darauf, dass die Diözese 2010 eine Ombudsstelle eingerichtet habe. Wo auch die Betroffenen diesen Weg gehen wollten, seien die Fälle bekannt und aufgearbeitet worden.
Wastl erinnerte an aus anderen Studien bekannte systemische Defizite in der katholischen Kirche, die Missbrauch begünstigen würden. Dies treffe auch im Blick auf Südtirol zu. Ausdrücklich kritisierte er für die Vergangenheit auch eine "mangelnde Fehlerkultur", die Kirchenverantwortliche irgendwann "abhängig vom Täter" machen würden und betonte, dass die Achtung des Prinzips der Unschuldsvermutung präventive Maßnahmen und Vorkehrungen nicht ausschließe. Der Rechtsanwalt thematisierte zudem die zu beobachtende Spaltung von Gemeinden nach Bekanntwerden von Missbrauchsfällen und die Notwendigkeit professioneller Hilfe für diese Gemeinden.
Bischof: "Belastender, aber notwendiger Blick auf die Realität"
Nach der rund 90-minütigen Pressekonferenz erhielten Bischof Ivo Muser und Generalvikar Eugen Runggaldier die beiden je rund 600 Seiten umfassenden Bände auf Deutsch und Italienisch, den vorherrschenden Sprachen in der Südtiroler Diözese. Auch Muser waren die Ergebnisse des Gutachtens vor der Präsentation nicht bekannt. Er will am kommenden Freitag ausführlich dazu Stellung nehmen.
In einigen Worten am Ende des Medientermins äußerte Muser, der seit 2011 als Bischof von Bozen-Brixen amtiert, Scham über die Missbrauchsfälle und den Umgang der Kirche mit ihnen. Der Bischof sprach von einem "belastenden, aber notwendigen Blick auf die Realität" und betonte: "Wir wollen, dass die Kirche ein sicherer Ort ist - besonders für Kinder, Jugendliche und verletzliche Personen."
Gerade im Gespräch mit Betroffenen habe er viel über die zerstörerische Kraft von Missbrauch gelernt, betonte Muser. Er dankte den beteiligten Anwälten, insbesondere aber "den Betroffenen und allen, die durch ihren Mut dazu beigetragen haben, dass dieses Gutachten möglich wurde". Er wolle sich an die Seite der Betroffenen stellen; "ihr Leid ist beschämend und fordert uns heraus, hinzusehen", betonte Muser. "Jeder Fall ist einer zu viel. Viel zu viel."
Die Diözese Bozen-Brixen hatte im November 2023 ein auf drei Jahre angelegtes Projekt "Mut zum Hinsehen" gestartet, um Missbrauchsfälle im kirchlichen Bereich aufzuarbeiten und die Prävention von Missbrauch zu verbessern. Den jetzt beschrittenen Weg wolle die Diözese weitergehen, betonte Bischof Muser.
(SERVICE: Für Fragen und Anliegen stehen folgende Kontakte zur Verfügung: Ombudsstelle der Diözese für Missbrauchsfälle Tel.: (+39) 348 37 63 034 E-Mail: ombudsstelle.sportello@bz-bx.net; Telefonseelsorge Tel.: (+39) 471 052 052 (rund um die Uhr), Online-Beratung: telefonseelsorge.bz.it; Männerberatung Tel.: (+39) 471 324 649, E-Mail: mb@caritas.bz.it; Jugendtelefon "young&direct" WhatsApp: (+39) 345 0817 056 (Mo-Fr, 14.30-19.30) Tel.: (+39) 471 155 1 551 (Mo-Fr, 14.30-19.30) Skype: young.direct, Psychologisches Krisentelefon Tel.: 800 101 800 (rund um die Uhr), Zentrum "Il germoglio-Der Sonnenschein" Tel.: (+39) 471 061 400 (Bürozeiten), Helpline: (+39) 800 832 842 E-Mail: germoglio@lastrada-derweg.org)