Martin Lintner prüft in neuem Buch Überzeugungskraft der vor 50 Jahren erschienenen Enzyklika Papst Pauls VI. und plädiert für eine Abkehr der lehramtlichen Festlegung auf natürliche Familienplanung - Fraglich, ob jegliche künstliche Verhütung kategorisch gegen die Würde der Person verstößt
Wien, 12.07.2018 (KAP) Die kirchliche Tradition in Bezug auf das Verständnis von Ehe und Sexualität hat "eine lange Entwicklungsgeschichte" mit so mancher Wendung; somit wäre es nach der Überzeugung des Südtiroler Moraltheologen Martin Lintner denkbar und wünschenswert, die Enzyklika "Humanae vitae" von Papst Paul VI. weiterzuentwickeln und die dortige Festlegung auf natürliche Familienplanung aufzugeben. Das geht aus Lintners Buch "Von Humanae vitae bis Amoris laetitia" hervor, das er anlässlich des Erscheinens der Enzyklika vor 50 Jahren heuer im Tyrolia-Verlag veröffentlichte. Darin prüft er nicht nur das von Paul VI. hochgehaltene Traditionsargument, sondern auch andere wie etwa das Naturrecht oder die Warnung vor moralischen Folgen künstlicher Verhütungsmittel wie der "Pille".
"Wie überzeugend sind die Argumentationsformen und die Gründe gegen die künstliche Empfängnisregelung?": So lautet das zentrale Kapitel des Buches, in dem Lintner Pro und Contra abwägt - und zum Schluss kommt: Das gerade später bei Papst Johannes Paul II. feststellbare intensive Bemühen, das ausnahmslose Verbot künstlicher Methoden zu begründen und durch disziplinäre Mittel gleichsam zu "erzwingen", war "letztlich nicht überzeugend". All das habe nicht verhindert, dass "Humanae vitae" auf breiter Ebene "eine positive Rezeption und die innere Zustimmung von sehr vielen Gläubigen verwehrt blieb". Laut dem in Brixen lehrenden Moraltheologen und Vorsitzenden der Internationalen Vereinigung für Moraltheologie und Sozialethik muss die Kirche "das Gewissensurteil von Gläubigen ernst nehmen und ihre Reflexionen als eine mögliche Quelle der sittlichen Einsicht einbeziehen".
Erst mit Konzil Wertschätzung der Lust
Würde die künstliche Empfängnisregelung als sittlich erlaubt angesehen, müsste zugegeben werden, dass sich die Kirche davor geirrt hat - dies habe Papst Paul letztlich zu seiner lehramtlichen Festlegung bewogen, zu einer - wie Lintner darlegte - einsamen Gewissensentscheidung des Papstes gegen die Mehrheitsempfehlung einer noch von Johannes XXIII. eingesetzten und von Paul VI. bestätigten Studienkommission und einer von ihm selbst ernannten Bischofskommission. Zu diesem Traditions- bzw. Autoritätsargument merkte Lintner an, beim Kirchenlehrer Augustinus sei Geschlechtsverkehr ohne Zeugungsabsicht verpönt gewesen, ein Mann würde seine Frau dadurch zur Dirne erniedrigen. Erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil habe sich eine Wertschätzung der sexuellen Lust als Ausdruck ganzheitlicher Liebe zwischen Ehepartnern lehramtlich durchgesetzt. Auf dieser Linie liegt auch "Amoris laetitia" von Papst Franziskus, in der die erotische Dimension der Liebe als "Geschenk Gottes" betrachtet wird.
Mit "Humanae vitae" muss ein jahrhundertelanger Entwicklungsprozess der Lehre somit nicht zu Ende sein, folgert Lintner. Es sei legitim darüber nachzudenken, ob nicht jeder einzelne eheliche Akt, sondern vielmehr die Ehe als solche offen sein muss für die Zeugung von Kindern. Die Unfruchtbarmachung des einzelnen Aktes wäre dann nicht automatisch gleichzusetzen mit der Verletzung seiner Würde als Ausdruck von Liebe.
Braucht Tugend der Keuschheit bestimmte Methode?
Aber auch weitere, in "Humanae vitae" ins Treffen geführte Argumente haben laut Lintner ihre Schwächen; so das Naturrechtsargument von der "naturgemäßen" unlösbaren Einheit von liebender Vereinigung und Fortpflanzung, dem neben theologischer auch von medizinischer und naturwissenschaftlicher Seite widersprochen werde. Johannes Paul II. habe dementsprechend nicht die "Natur der Sexualität" als schützenswert erachtet, sondern die Würde der Person - die verletzt werde, käme es zu einem Vorbehalt in der ganzheitlichen Annahme des/der anderen durch künstliche Empfängnismittel. Periodische Enthaltsamkeit sei demgegenüber ein Ausdruck persönlicher Reife und Rücksichtnahme, so der Wojtyla-Papst.
Lintners skeptische Rückfragen dazu: "Klingt mit dem Hinweis auf die zu überwindende Begierlichkeit im Kontext der natürlichen Empfängnisregelung nicht doch wieder die ... negative Deutung der Sexualität als etwas Animalisches ... durch?" Und: Gilt der Anspruch, durch Verzicht auf unmittelbare sexuelle Befriedigung den Wert des Gegenübers deutlich zu machen, nicht auch für Paare, die sich für andere Formen der Empfängnisregelung entscheiden als für natürliche? Und ist es somit wirklich notwendig, die für eine Ehe zweifelsohne notwendige Tugend der Keuschheit mit einer bestimmten Methode zu verknüpfen?
Dass - wie Paul VI. weiter darlegt - nur die natürliche Empfängnisregelung dem Willen Gottes entspricht und dieser Hoheitsrecht über menschliches Leben hat, repliziert Lintner mit der Bemerkung, "dass die direkte Identifizierung des Willens Gottes kaum möglich ist".
Viele Befürchtungen des Papstes aktuell
Deutlich mehr Gewicht misst der Moraltheologe den Befürchtungen des Papstes hinsichtlich der Folgen der Verwendung künstlicher Verhütungsmittel bei: Viele davon "waren und sind berechtigt", verwies Lintner auf die Gesundheitsgefährdung durch hormonelle Präparate, auf die Degradierung von Sexualität zu einem Konsumgut oder auf staatlich-diktatorische Eingriffe in die Familienplanung der Bürger. Die Papst-Sorge über eine sich verbreitende "Verhütungsmentalität", die sich auch in steigenden Abtreibungen niederschlagen werde, lasse sich hingegen empirisch nicht bestätigen.
Lintner ortet aber auch "viele gute Argumente", die für natürliche Empfängnisregelung sprechen: Beide Partner tragen Verantwortung, müssen kommunizieren und aufeinander Rücksicht nehmen, periodische Enthaltsamkeit könne für ein breiteres Spektrum an körperlicher Intimität sorgen... "Dennoch stellt sich die Frage, ob diese Argumente hinreichend sind, die Anwendung von künstlichen Empfängnisverhütungsmitteln kategorisch zu untersagen." Dies gelte umso mehr, als mit der Festlegung Pauls VI. auch andere Themen wie das Verhältnis von Gewissen und kirchlicher Norm bzw. vom Glaubenssinn des Gottesvolkes ("sensus fidelium") und der Autorität des Lehramtes betroffen sind - und das in einer Weise, die zu einem "Vertrauensverlust von vielen Gläubigen" in die Kirche bei Fragen rund um Sexualität, Ehe und Familie geführt hätten.
Martin Lintners "Von Humanae vitae bis Amoris laetitia. Die Geschichte einer umstrittenen Lehre" ist 2018 bei Tyrolia als Taschenbuch erschienen. Es umfasst 168 Seiten und kostet 14.95 Euro.
Weitere Meldungen und Hintergrundberichte zur vor 50 Jahren veröffentlichten Enzyklika "Humanae vitae" im Kathpress-Themenpaket unter www.kathpress.at/humanae-vitae
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