Glauben und Wissen: Philosoph Habermas legt neues Opus magnum vor
11.11.201913:16
Deutschland/Philosophie/Religion/Habermas
In seinem zweibändigen Großwerk "Auch eine Geschichte der Philosophie" folgt der Philosoph den Spuren einer "Genealogie des nachmetaphysischen Denkens" entlang der historischen Debatten über Glauben und Wissen - Von Henning Klingen
Berlin-Wien, 11.11.2019 (KAP) Wenn der deutsche Philosoph Jürgen Habermas ein neues Buch vorlegt, ist das inzwischen per se ein Ereignis. Ein Großereignis wird es indes, wenn dieses Werk aus der Feder eines 90-Jährigen stolze 1.750 Seiten umfasst und einem Parforce-Ritt durch die Philosophiegeschichte unter dem Vorzeichen des Diskurses von Glauben und Wissen gleicht. "Auch eine Geschichte der Philosophie" lautet der Titel des zweibändigen Werkes, in dem Habermas - dem von ihm zuletzt bei einer Vorlesung an der Uni Frankfurt zitierten "Maulwurf der Vernunft" nicht unähnlich - das zähe und permanente Ringen zwischen Glauben und Vernunft nicht nur philosophiegeschichtlich rekonstruiert, sondern als "Genealogie nachmetaphysischen Denkens", also als Geschichte der Herausbildung säkularen Denkens rekonstruiert.
Sein Hauptinteresse gilt dabei nicht etwa der Religion an sich oder gar der Theologie, sondern vielmehr der Klärung bzw. Ausleuchtung des dunklen Wurzelgrundes der abendländischen Philosophie. Schließlich habe die moderne Philosophie - gemeint ist die Philosophie als eine eigenständige, sich aus dem Klammergriff der Religion und Theologie losgelöste, autonome Wissenschaft - ihren Ausgang ja nicht bei Kant genommen, sondern viel früher. Und so rekonstruiert er die Emanzipationsgeschichte der Philosophie ausgehend von der sogenannten "Achsenzeit" - also jene von Karl Jaspers beschriebene epochale Zeit sozialer, gesellschaftlicher, politischer aber auch philosophischer Umbrüche zwischen dem 8. und 2. Jahrhundert v.Chr. - über die Symbiose von Glauben und Wissen im christlich aufgeladenen Platonismus, über Thomas von Aquin, Duns Scotus, Wilhelm von Ockham, Luther, bis hin zur "Wegscheide" der Philosophie: zur historischen Konstellation Kant vs. Hume und den Folgen in Form von Hegel, Marx und Kierkegaard.
Verteidigung des Herzensprojekts
Die Frage nach dem "Warum" dieser Rekonstruktion beantwortet Habermas im Vorwort zunächst mit dem fast flapsigen Hinweis, es habe ihm schlichtweg "Spaß gemacht" - doch zugleich zeigt vor allem das ausführliche Postskriptum, dass der Spaß eingebettet ist in das lebenslange Ringen des Sozialphilosophen um die rechte Rolle der Philosophie nicht nur als akademische Disziplin unter anderen, sondern für und in der Gesellschaft. Das Projekt der Moderne - jenes einer vernünftigen und aufgeklärten demokratischen Gesellschaft, die den Prinzipien der Freiheit und Gerechtigkeit folgt - ist weiterhin sein Herzensprojekt. Und dieses verteidigt Habermas sowohl gegen interne philosophische Anfechtungen als auch gegen jede Diagnose einer schwächelnden, in die Krise schlitternden Demokratie. Je erdrückender das Gefühl der Krise, desto wichtiger die Philosophie - der kritische Zeitgenosse und öffentliche Intellektuelle Habermas also wieder ganz in seinem Element.
Was aber bedeutet die Rekonstruktion aus Sicht der Religion bzw. der Theologie? Tatsächlich wird der kundige Habermas-Leser viele Motive wiedererkennen, die Habermas seit den 1980er Jahren entwickelt und unter anderem in seinem Werk "Nachmetaphysisches Denken II" gebündelt hat. Es ist dies etwa der Gedanke, dass eine postmetaphysische Moral kaum in der Lage ist, unbedingte Bindungskräfte zu erzeugen, ohne dabei auf existenzielle Quellen ethischer Orientierung zurückzugreifen, wie sie eben die Religion bietet. Mit dem Schlagwort "postsäkular" und der Perspektive auf mögliche Übersetzungsprozesse zwischen Philosophie und Religion näherte sich Habermas bereits in seiner Friedenspreisrede 2001 diesem an sich "verminten Gelände".
Eine nicht-defaitistische säkulare Vernunft wisse darum, so Habermas damals, dass die "Entweihung des Sakralen" in den Religionen und den historischen Diskurs-Konstellationen selbst ihren Anfang nahm, indem die Religion nämlich selbst dazu beitrug, dass "Magie entzaubert", der "Mythos überwunden, das Opfer sublimiert und das Geheimnis gelüftet" worden sei. Unter diesen Voraussetzungen könne die Vernunft "von der Religion Abstand halten, ohne sich deren Perspektive zu verschließen".
"Ein Pfahl im Fleisch der Moderne"
Der damals u.a. im Rekurs auch auf seine eigenen philosophischen Lehrer Horkheimer und Adorno entwickelte Gedanke eines bleibend geöffneten Türspaltes zwischen den Räumen der Philosophie und der Religion bewegt Habermas auch in seinem aktuellen Werk. Dabei kann sich Habermas bei seiner das Buch beschließenden Perspektive diesmal auf eine weitaus größere Materialfülle stützen - gewonnen aus einer fast zehnjährigen Quellenlektüre und manch einer auch für religiös musikalische Zeitgenossen durchwegs erhellenden Detailbeobachtung wie etwa jener zur Bedeutung des Sakralen, von Mythos und Ritus. Vor diesem Hintergrund formuliert Habermas schließlich auch sein Abschlussplädoyer, demnach die säkulare Moderne sich zwar "aus guten Gründen vom Transzendenten abgewendet" habe - die Vernunft jedoch "mit dem Verschwinden jeden Gedankens, der das in der Welt Seiende im Ganzen transzendiert, selber verkümmern" würde.
Dass die Abwehr dieser Gefahr alles andere als eine Trockenübung im sterilen Kämmerlein philosophischer Schreibstuben ist, zeigt Habermas schließlich unter Verweis auf den religiösen Ritus auf: "Die Abwehr dieser Entropie ist ein Punkt der Berührung des nachmetaphysischen Denkens mit dem religiösen Bewusstsein, solange sich dieses in der liturgischen Praxis einer Gemeinde von Gläubigen verkörpert und damit als eine gegenwärtige Gestalt des Geistes behauptet. Der Ritus beansprucht, die Verbindung mit einer aus der Transzendenz in die Welt einbrechenden Macht herzustellen. Solange sich die religiöse Erfahrung noch auf diese Praxis der Vergegenwärtigung einer starken Transzendenz stützen kann, bleibt sie ein Pfahl im Fleisch einer Moderne, die dem Sog zu einem transzendenzlosen Sein nachgibt - und solange hält sie auch für die säkulare Vernunft die Frage offen, ob es unabgegoltene semantische Gehalte gibt, die noch einer Übersetzung 'ins Profane' harren."
(Jürgen Habermas: "Auch eine Geschichte der Philosophie. Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen; Band 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen", Suhrkamp Verlag, 1.752 Seiten)
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